Anlässlich der Schießeröffnung am Sonntag 3. November 2019 war geplant, der Bevölkerung im Anschluss an die Hl. Messe am Dorfplatz den am Rathaus aufgestellten “Optionskoffer” vorzustellen. Es handelte sich um die Aktion des Südtiroler Schützenbundes “Schicksal 39 – Option, Gehen oder Bleiben“.
Aufgrund der schlechten Witterung konnte die Veranstaltung am Dofplatz nicht stattfinden und Ehrenmajor Sepp Kaser hielt die Gedenkrede in der Pfarrkirche. Hier der Wortlaut der Ansprache, wie sie für den Dorfplatz vorgesehen war:
Liebe Lüsner Landsleute,
etwas ungewohnt, heute die Schießeröffnung hier auf der Dorfgasse zu machen, und hier unter diesem Koffer mit den Texten über die Option, die ihr sicher schon in diesen Tagen gelesen und mit Bedenken betrachtet habt.
Option 1939 – Bleiben oder Gehen. Der Grundstein wurde schon mit dem Friedensvertrag von St. Germain vor 100 Jahren 1919 mit der Teilung Tirols gelegt. Als ab 1933 Hitler an die Macht kam, und er dem gleichen Diktator Benito Mussolini begegnete, wurde die Option zum Thema, natürlich für die Faschisten im Lande sehr willkommen.
Aktuell wurde die Sache 1938, als Hitler in Österreich einmarschierte und somit am Brenner stand. Man wollte am Brenner eine reine Grenze haben. Die deutschsprachige Bevölkerung in Südtirol stand dem schon lange im Wege. Hitler und Mussolini haben am 23. Juni 1939 die Aussiedlung beschlossen und am 21. Oktober mit der Umsetzung begonnen.
Der Gedanke, die Menschen auszusiedeln war auch für Ettore Tolomei, dem Totengräber Südtirols sehr willkommen. Südtirol wäre sprachlich und kulturell zum Tode verurteilt worden. Das hieß, die Bevölkerung kann ins deutsche Reich abwandern oder wird unter die Po-Linie versetzt. Nur Italiener dürfen hier bleiben. Die Leute mussten sich bis zum 31.12.1939 entscheiden – Gehen – das Bleiben war damals nicht so sicher.
Wegen der vorherigen 20 jährigen faschistischen Unterdrückung nehmen wir das kleinere Übel in Kauf und unterschreiben fürs deutsche Reich. Wir gehen in jenes Gebiet, wo man zumindest unsere Sprache versteht. So lautete die allgemeine Gesinnung. Es war das schlechteste Weihnachten aller Zeiten. Nur der Geistlichkeit gewährte man Aufschub bis zum 30. Juni 1940.
Die Propaganda nahm ihren Lauf. Auf der einen Seite war der geheime Andreas Hofer Bund mit Kanonikus Michael Gamper und Hans Egartner, um nur einige zu nennen, zum Dableiben, auf der anderen Seite der Völkische Kampfring Südtirols VKS, der fürs Auswandern propagandierte. Aufgrund der vorher versprochenen, jedoch nicht eingehaltenen Rechte und wegen der Schikanen der Faschisten, auch die wirtschaftlich sehr schlechte Lage der 30er Jahre spielte eine Rolle, glaubte man leider dem VKS mehr als den anderen.
Es begann eine fanatische Propaganda zum Gehen oder Bleiben, bis hinein in die Familien und auf dem Arbeitsplatz. Für verheiratete Frauen stimmte der Ehemann, bzw. der Vater für die unmündigen Kinder ab. Hatte jemand eine Staatstelle und optierte für Deutschland, wurde er auf der Stelle entlassen. Oder umgekehrt Italienischwähler wurden bei deutschgesinnten Arbeitgebern entlassen.
Diese große Abstimmung fürs Deutsche Reich wurde vielfach auch sprachlich manipuliert. Ein Beispiel: Die vorgelegten Texte fürs Deutsche Reich waren auf Deutsch geschrieben und für den Verbleib in der Heimat, bzw. für Italien nur auf Italienisch. Man bedenke, dass damals viele Leute hier in Lüsen kaum italienisch lesen konnten und nur selten nach Brixen kamen, sich deshalb für den deutschen Text entschieden, obwohl sie keine Hitleranhänger waren und eigentlich auch nicht weggehen wollten. Auch die Sprache wollte man nicht verleugnen.
Die Lüsner Bauern und Grundbesitzer sagten: „Wählen tui i deutsch und bleiben tu i do“. Am 2. Jänner 1940 wurde bekannt, dass 96 % der Lüsner für Deutschland optiert hatten. Das waren 1220 Personen fürs Deutsche Reich und nur 38 für Italien. Viele hofften insgeheim, doch dazubleiben zu können. Mein Großvater erzählte, dass 6 Familien sich für den Verbleib bei Italien entschieden hatten. Man zeigte auf diese Leute und keiner setzte sich im Kirchenstuhl zu ihnen. Mit „Buon giorno“ wurden sie spöttisch begrüßt, die größte Beleidigung damals.
Auch erzählte er, er wollte Erde gratteln und bat einen bekannten Bauern, um ein Stück Seil zur Verlängerung. Die Antwort war, auf keinen Fall. Ich schneide dir noch das Deine ab, wenn du für den Walschen Erde grattlst – gemeint war der zukünftige Besitzer. Die zum Auswanderern bereiten Bauern sagten sich, ich repariere nichts mehr am Hof, wenn er in italienische Hände gerät. Mein Großvater sagte auch, es war eine Zeit, man konnte niemanden etwas glauben!
Der Pfarrer Eduard Mair unter der Eggen war sehr vorsichtig, wenn ihn die Leute um Rat fragten, obwohl er ein Dableiber war. So waren auch die Lüsner Geistlichen, Josef Gargitter oder Kanonikus Georg Kaser mehr fürs Dableiben, aber öffentlich durften sie nicht Stellung nehmen. Die Heimkehrer vom Ersten Weltkrieg sagten, sie hätten nirgends den Platz gesehen, wo man die Südtiroler hätte hinbringen sollen, ohne andere zu vertreiben, was im Sudetenland passiert ist.
Es begann dann 1940 das Auswandern. Eher war es die Arbeiterschicht, die abwanderte, für die hier weder Arbeit und schon gar nicht eine Staatstelle zu bekommen war. Nicht zu vergessen sind jene Personen aus Lüsen mit geistiger Beeinträchtigung, die wohl in Hall der Euthanasie zum Opfer fielen und deren Namen jetzt langsam bekannt werden.
Liebe Landsleute und Schützenkameraden,
man sieht was eine Diktatur und dann eine fanatische Propaganda, wie es damals war, alles anrichten kann. Nicht vergessen dürfen wir, dass die Geistlichkeit in Südtirol zu 80% für den Verbleib in der Heimat gestimmt hat, auch führende Unternehmer in Südtirol, die dann am Ende des Weltkrieges 1945 politisch tätig wurden und von den Amerikanern und Italienern anerkannt wurden. Diese gründeten die Südtiroler Volkspartei, um das Deutschtum weiterhin zu sichern.
Wir Schützen wollen mit der Aktion Koffer, vom SSB ausgehend, mit den Texten hier, sowie mit dem heurigen Herbstschießen und einer Medaille mit der Aufschrift: „Auf Befehl zweier Diktatoren – Option 1939“ und weiters auch am Josefitag 2020 mit einem Vortrag von Ernst Delmonego an jene schreckliche Zeit erinnern. Uns Jüngeren aber steht es in keiner Weise zu, die Menschen von damals zu verurteilen, egal für wofür sie stimmten, sondern vielmehr soll uns bewusst werden, wie wertvoll es ist, dass wir in Frieden leben können.
Darum vergessen wir jene schreckliche Zeit nicht, die für Südtirol die Schlimmste in der Geschichte war. Auch für Lüsen mit den 215 Abgewanderten, ein enormer Schaden, der große Streitigkeiten in den Familien und Gemeinde mit sich brachte. Viele der Abgewanderten haben dies ein Leben lang bereut, und viele sind fern der Heimat auch verstorben.
Für diese fern der Heimat Verstorbenen wird am Schluss im Gedenken eine Ehrensalve abgefeuert.
Da ich hier nicht länger werden möchte, so möchte ich euch ersuchen, besucht die Ausstellung im „Goldenen Adler“ in Brixen oder noch besser, schaut wieder einmal ins Lüsner Dorfbuch von 1987 von Ernst Delmonego oder lest den Text in diesem Ladschreiben zum heurigen Schießen. In diesem Sinne achten wir darauf, dass es nie wieder zu blindem Fanatismus kommt, wo die Propaganda und Diktatoren das Sagen haben!
Dieser Koffer mit den Begleittexten soll die unselige Option veranschaulichen und uns alle mahnen, weiterhin auf unsere Heimat mit deren Sprache, Kultur und die christlichen Werte zu schauen und nicht aufzugeben!
(Anstelle der Ehrensalve wurde in der Kirche ein Vaterunser für die fern der Heimat verstorbenen gebetet)